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6. Türchen im #SchutzRaum

6. Dezember: Tag 6

Astrid Dethloff (55) arbeitet als Flüchtlingsbeauftragte und Traumapädagogin im Kirchenkreis Plön-Segeberg. Dort lernte sie Jasir und seinen Vater aus Afghanistan kennen.

Die Kiste auf dem Schrank

Jasir war 4 Jahre alt, als er gemeinsam mit seinem Vater aus Afghanistan floh. Die Mutter des Kindes war für eine weite Flucht zu krank, deshalb blieb sie im Iran. Die Beiden durchquerten zu Fuß den Iran, die Türkei, Griechenland, Albanien, Bosnien, Kroatien, Slowenien, Italien, die Schweiz und schließlich erreichten sie Deutschland.

Jasir erlebte auf der langen Flucht viele schwierige Situationen. In der Türkei sollte eine Frau gegen Geld auf ihn aufpassen, während der Vater arbeitete. Sie setzte Jasir als Haussklaven ein. Er musste den Boden des Hauses sauber halten, tat er dies nicht, gab es Schläge. Danach ertrug Jasir keine Trennung mehr von seinem Vater.

In Kroatien kamen sie in ein bewachtes Camp. Bei der Ankunft mit zwei weiteren Familien wurden Eltern und Kinder voneinander getrennt und auf gegenüberliegende Seiten eines Innenhofes gestellt. Die Erwachsenen wurden schreiend befragt, wer sie seien und was sie in Kroatien wollten. Die Entfernung zu seinem Vater war für Jasir unerträglich und er versuchte, zu ihm zu laufen. Die Wärter hielten ihn auf, indem sie ein Gewehr quer vor den Jungen hielten. Als der Vater das sah, schrie er, sie sollten seinem Sohn nichts tun. Er wurde daraufhin vor den Augen seines Kindes auf dem Boden liegend mit Fäusten und Tritten verprügelt.

Jasir sprach seitdem nicht mehr.

Um nicht wieder nach Kroatien zurückkehren zu müssen, waren beide einige Zeit im Kirchenasyl. Das bedeutete für Jasir einen sicheren Ort und die Chance, das Erlebte aufzuarbeiten. Wir arbeiteten traumapädagogisch mit ihm. Er malte seine Träume, sammelte Gegenstände, die für das Erlebte standen und legte alles in eine kleine Kiste. Die stand oben auf dem Schrank und verwahrte die ganzen schlechten Erlebnisse und Gefühle. Keiner durfte die Kiste öffnen - so sein Wunsch.

Nach drei Monaten im Kirchenasyl sang Jasir beim Erntedankgottesdienst im Kinderchor mit.

Die Kiste ließ er nach Ende des Kirchenasyls in der Gemeinde stehen. Er wollte sie und den Inhalt nicht mitnehmen.

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